Mira Lobe

Ronnis allererster Advent

Draußen war graues Novemberwetter. Keine Spur von Schnee. Der bunte Adventskalender hing an der Wand und Ronni klappte das erste Fenster auf. Dafür durfte Gisela das erste Licht anzünden. Als ob es nicht auch einmal umgekehrt sein könn­te!, dachte Ronni. Als ob ich nicht längst mit Streichhölzern umgehen kann und Kerzen anzünden - und all so was! Aber nein: Gisela ist die große Schwester und ich bin und bleib der Kleine!

Manchmal hätte er wirklich zerspringen können vor Zorn.

Der Vater räusperte sich feierlich und stimmte ein Adventslied an: „Leise rieselt der Schnee ...“

Die Mutter und Gisela sangen mit.

„Rieselt ja gar nicht!“, brummte Ronni dazwischen. Der Vater warf ihm einen strengen Blick zu, die Mutter einen vorwurfsvoll-bittenden, machten aber gleich wieder fromme Gesichter und sangen weiter, in der Hoffnung, dass auch Ronni ein frommes Gesicht machen und mitsingen würde.

Als Nächstes kam „Tochter Zion, freue dich!“ dran. Ronni wartete den Schluss ab und fragte, ob dieser Zion eigentlich nur eine Tochter gehabt hätte und keinen Sohn, der sich bestimmt genauso gern freuen würde.

Gisela verdrehte die Augen: „Jetzt fängt der Ronni wieder mit seiner Fragerei an! „

„Wer nicht fragt ...“, rief Ronni und wollte den schönen Satz sagen, mit dem die Lehrerin am ersten Schultag die Kinder ermuntert hatte: Wenn ihr etwas nicht wisst, dann fragt! Wer nicht fragt, der bleibt dumm.

„Wer nicht fragt ...“, rief er also, aber der Vater unterbrach ihn: „Wollt ihr singen oder streiten, ihr zwei? Ich dachte, wir feiern den ersten Advent?!“

Die Mutter nickte zustimmend und fing das nächste Lied an: „Kling, Glöckchen, klingelingeling ... „ Sie hatte eine hohe Stimme und der Vater fiel mit seiner tiefen ein: „Ist so kalt der Winter, lasst mich ein, ihr Kinder.“

Bei der Zeile „Öffnet mir die Türen ...“  rüttelte es draußen an der Tür, aber nicht das Christkind wollte hereinge­lassen werden, sondern Mirko, der Kater. Mit hoch erhobenem Schwanz spazierte er ins Zimmer und sprang sofort auf Ronnis Schoß. Dort war sein Lieblingsplatz; und von dort rührte er sich auch nicht mehr weg, bis alle Lieder gesungen waren und die Kerze fast heruntergebrannt.

Zwei Tage später machte Ronni am Morgen das dritte bunte Fenster auf. Alles andere war wie sonst: ein gewöhnlicher Wochentag mit Schule und Hausaufgaben und Karotten zum Mittagessen, die Ronni nicht mochte.

Mit den Aufgaben war er schnell fertig; in der Ersten bekamen sie noch nicht viel auf. Nur ein paar Sätze mit Mama, Papa, Oma, Opa. „Der Papa ist im Haus. Die Mama ist im Haus. Der Opa ist im Haus. Die Oma ist im Haus.“ Das Gleiche noch einmal mit „Hof“. „Der Papa ist im Hof“. Er klappte das Heft zu.

„Du hast es gut!“, sagte Gisela neidisch. „Ich muss noch Latein machen und Vokabeln lernen und ... „

„Möchtest du lieber noch mal in die Erste gehen?“, fragte Ronni.

„Nein. Den ganzen Zirkus von vorne? Das fehlte noch.“ Gisela schüttelte sich. „Und jetzt jetzt lass mich in Ruhe, Ronni. Immer fängst du mit deinem Gefrage an ...“

Ronni hätte erwidern können, dass nicht er angefangen hatte, sondern sie. Doch er schwieg und setzte sich auf den Tisch neben den Ständer mit dem Adventskranz, der an seinen roten Bändern hing. Wenn man den Kranz anstupste, dann schaukelte er leise hin und her. Mirko hob die Pfote und wollte auch stupsen, aber er traute sich nicht, aus Angst vor den spitzen grünen Nadeln.

„Advent ...“, sagte Ronni halblaut, „Ad-vent ..? Was heißt denn das überhaupt?“

Gisela fuhr ihn an: „Ronald, du störst mich. Wie oft soll ich dir noch sagen, dass ich lernen muss!“

„Ich will ja nur wissen, was das für ein Wort ist: Advent. Wenn du schon so viel

lernst und so schlau bist, dann sag's mir doch. Aber du weißt es halt auch nicht.“

„Doch weiß ich's: ,Herankommen, sich nähern'. Advenio - ich komme heran, adveni

- ich kam heran, adventus, -a, -um - ich bin herangekommen.“

„Du doch nicht! „, widersprach Ronni. „Weihnachten kommt heran. Josef und Maria kommen heran - nach Bethlehem, zum Stall, wo das Kind geboren wird. Aber erst am Heiligen Abend - und der ist noch weit und das ist ein Glück! Weil ich nämlich noch gar nicht weiß, was ich den Eltern schenken soll. Und was du dir wünschst, weiß ich auch nicht.“ „Ich wünsche mir, dass du endlich den Mund hältst und mich in Ruhe lässt.“

Für ein paar Minuten war es still im Zimmer. Mirko lag zusammengerollt auf Ronnis Knien und ließ sich sein schwarzes Fell streicheln. Aus schmalen Augen blinzelte er schläfrig vor sich hin und schnurrte.

„Der erste Advent ...“, sagte Ronni in die Stille hinein.

„Der war vorgestern! Ronald, ich warne dich! „

Gisela zielte mit dem Radiergummi nach ihm.

„Den meine ich aber nicht - den von vorgestern. Ich meine den allerersten Advent, den von damals in Bethlehem. Glaubst du, dass sie es alle gewusst haben, dass etwas herankommt? Etwas Schönes - und dass sie sich darauf gefreut haben, so wie wir uns freuen?“

„Wer denn: ,alle'?“, fragte Gisela. „Josef und Maria haben es natürlich gewusst ...“ Ronni lachte: „Na klar haben die's gewusst! Vater und Mutter werden doch wohl wissen, dass sie ein Kind kriegen. Und der Engel hat's gewusst, du weißt schon, der es den Hirten kundgemacht hat ...“

Er legte eine kleine Pause ein und blickte zu der Schwester hin, ob sie merkte, wie vornehm er sich ausdrückte. ,Kundgemacht‘ - : Er war stolz, dass ihm so ein feines Wort eingefallen war. Auch der holde Knabe im lockigen Haar fiel ihm ein. Ronni selbst hatte leider nur ganz glatte Haare und stellte sich den gelockten Knaben wunderhübsch vor.

„Maria und Josef haben's gewusst und der Engel ...“, fuhr er fort, „... weil Engel alles wissen - und die Schafe.“

„Die Schafe?“

Gisela betrachtete den Bruder, als käme er vom Mond.

„Ja. Die haben es viel früher erfahren als die Hirten. Den Hirten hat es der Engel ja erst in der Weihnachtsnacht gesagt, wie das Kind schon da war. Aber die Schafe haben es schon am allerersten Advent gewusst.“

„Von wem denn?“

„Von den Wolkenschafen. Die sind ja auch dort oben am Himmel und haben zugehört, wie die Engel miteinander geredet haben. Da sind die Wolkenschafe heruntergekommen zu den Erdenschafen und haben es ihnen erzählt und die haben es dann Ochs und Esel im Stall weitergesagt.“

Ronni atmete tief ein und wieder aus, es klang wie ein erleichterter Seufzer. Er war sehr zufrieden mit seiner Geschichte. Und weil Gisela ihn fast mitleidig ansah, als ob sie ihn für schwachsinnig hielte, wiederholte er trotzig: „Die Tiere haben's gewusst. Noch vor den Hirten und den drei Königen ...“

„Tiere wissen gar nichts!“, sagte Gisela scharf. „Du spinnst, Ronni! Tiere haben keinen Verstand und sind dumm. „

„Das ist nicht wahr. Tiere sind manchmal sehr klug. Bei einem Erdbeben zum Beispiel, wenn die Menschen noch gar keine Ahnung haben, da wissen es die Hunde schon lange davor.“

„Woher hast du das?“

„Von meiner Lehrerin.“

Gisela wandte sich wieder ihrem Heft zu. „Was hat denn dein Erdbeben mit Bethlehem und den Schafen zu tun?“, murmelte sie. „Du bist selbst ein Schaf. So was Unlogisches!“ Sie stopfte sich beide Zeigefinger in die Ohren, zum Zeichen, dass sie Ronnis Antwort nicht mehr hören wollte. Aber das war ihm egal. Und ob er logisch war oder unlogisch - das war ihm auch egal. Aus halb geschlossenen Augen schaute er vor sich hin, genau wie Mirko, und träumte sich seinen allerersten Advent zurecht:

Er sieht die Hirten des Nachts auf dem Felde. Sie schlafen alle, nur die Schafe sind wach und grasen. Und als nun die Wolkenschafe herunterkommen, da erschrecken sie nicht etwa, so wie später die Hirten vor dem Engel erschrecken werden, bis er ihnen sagt: „Fürchtet euch nicht!“ Sie laufen gleich alle herbei und umringen die Wolkenschafe und erkundigen sich, wie es denn da oben im Himmel so ist: Ob sie dort Gras und Klee haben wie hier unten und ob es Spaß macht, wenn der Wind sie jagt ... Aber die Wolkenschafe lassen sie kaum zu Wort kommen und fragen: „Wisst ihr denn nicht, was für ein Tag heute ist?“

Die Erdenschafe schütteln ihre wolligen Köpfe.

„Heute ist der erste Advent!“, sagen die Wolkenschafe. „Es kommt etwas heran, eine stille, heilige Nacht, da wird ein Kind geboren, ein holder Knabe im lockigen Haar. Könnt ihr das, bitte, in Bethlehem dem Ochsen und dem Esel ausrichten? Denn dort im Stall kommt das Kind auf die Welt. Ihr wisst doch, wo Bethlehem ist?“

„Klar wissen wir das! „, sagen die Erdenschafe. „Aber warum denn im Stall? Warum suchen die Eltern von dem holden Knaben nicht was Besseres, eine Herberge oder ein Hotel oder ein Zimmer bei einem freundlichen Vermieter? „

„Weil die Eltern arm sind“, sagen die Wolkenschafe.

„Und zu armen Leuten - noch dazu, wenn sie gerade ein Kind kriegen - sind die Vermieter nicht freundlich, wie ihr glaubt.“

„Ochs und Esel werden umso freundlicher sein ...“, versprechen die Erdenschafe und die Wolkenschafe sagen: „Über ihrem Stall wird ein Stern stehen.“

„Drei Könige werden kommen und die Hirten und viele Engel, große und kleine. Die Hirten werden ihre Flöten mitbringen und die Engel werden im Chor singen ...“

„Wie schön!“, sagen die Erdenschafe. „Und wir sind auch dabei?“

„Na klar!“, nicken die Wolkenschafe. „Ihr wisst also Bescheid. Und jetzt müssen wir heim. Schöne Adventsgrüße an Ochs und Esel.“

Damit fliegen sie wieder hinaus, geradewegs in den Sternenhimmel, und die Erdenschafe schauen ihnen nach. Noch in der selben Nacht laufen ein paar nach Bethlehem, um die Botschaft zu überbringen. Es ist ein weiter Weg, aber sie sprin­gen und hüpfen und galoppieren - und es dauert gar nicht lange, da sind sie dort. Sie finden den Stall, und weil die Tür nur angelehnt ist, können sie gleich hinein. Ochs und Esel staunen zuerst über den Besuch mitten in der Nacht. Doch als sie die Botschaft hören, sind sie glücklich. Der Ochs schnaubt vor Freude, weil das Kind gerade in ihrem Stall zur Welt kommen soll, und der Esel stellt beide Ohren auf, als höre er schon die Engelchöre singen.

„Wir werden für das Kind unsere Krippe sauber schlecken“, sagt der Ochs, „so sauber, dass

sie glänzt und wie neu ist.“

„Fein!“, rufen die Schafe.

„Und dann werden wir die Krippe mit frischem Stroh auspolstern!“, sagt der Esel.

„Nicht mit Stroh, sondern mit Heu!“, sagt der Ochs. „Stroh ist hart und pikt. Heu ist weich und warm und duftet.“

„Fein!“, rufen die Schafe.

„Und wenn das Kind schlafen will“, sagt der Esel, „dann werden wir ihm die Fliegen wegwedeln mit unseren Schwänzen.“

So reden sie hin und her. Wer draußen am Stall vorbeikommt, der hört nur Muh und Mäh und Iii-ah und weiß nicht, dass die Tiere ein langes echtes Adventsgespräch führen.

Draußen wird es schon hell, als die Schafe endlich Abschied nehmen. „Zu Weihnachten sehen wir uns wieder!“, sagen sie. „Also - bis dann.“

Sie traben den ganzen Weg zurück und weil sie müde sind, geht es nicht halb so schnell wie auf dem Herweg. Die Hirten sind schon eine Weile wach und einer sagt: „Seltsam! Ich könnte schwören, dass die Herde kleiner ist als sonst.“

„Zählen wir!“, sagen die anderen. Aber als sie damit anfangen, rennen alle Schafe durcheinander, sodass die Hirten sich verzählen und immer wieder von vorne anfangen müssen. Bis sie es schließlich aufgeben. Erst gegen Mittag, als die Bethlehem­Schafe zurück sind und sich unauffällig unter die anderen mischen, sagt der eine Hirte: „Seltsam! Ich könnte wetten, dass die Herde genauso groß ist wie immer.“

Ronni kicherte leise, als er sich die Gesichter der Hirten vorstellte, die ganz verwirrt waren.

Sie hörten die Schafe blöken und verstanden nicht, was die aus Bethlehem zurückgekehrten den auf dem Felde gebliebenen von dem Adventsgespräch im Stall erzählten ... Mirko schnurrte. Draußen dämmerte es und das Zimmer war voll dunkler Schatten. Von draußen kamen Schritte, die Tür ging auf und der Vater drehte das Licht an.

„Was ist denn hier los? Schlummerstunde? Gisela, du wirst dir die Augen verderben. Wieso sitzt du noch immer über den Aufgaben?“

„Weil der Ronni mich dauernd gestört hat. Mit lauter Dummheiten, mit Schafen und Ochsen und Eseln und seinem allerallerersten Advent.“

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